Maigret - 44 - Maigret und die schrecklichen Kinder by Georges Simenon
Autor:Georges Simenon [Simenon, Georges]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
veröffentlicht: 2014-03-23T23:00:00+00:00
5
Marcels Lügen
In dem Augenblick, als Maigret seine Pfeife ansteckte, begann so etwas wie ein stummes Zeremoniell, das ihn mehr als alles, was er seit dem Vortag in Saint-André erlebt hatte, an das Dorf seiner Kindheit erinnerte. Einen Augenblick trat sogar eine seiner Tanten, ebenfalls in blaukarierter Schürze und mit Haarknoten, an die Stelle von Madame Sellier.
Die hatte ihren Mann nur mit großen Augen angesehen, und der lange Julien hatte die Botschaft verstanden, sich zur Hoftür begeben und war einige Minuten fortgeblieben. Inzwischen öffnete seine Frau die Anrichte, holte zwei von den guten Gläsern heraus, die sicher nur benutzt wurden, wenn Besuch kam, und rieb sie mit einem sauberen Geschirrtuch blank.
Als der Klempner zurückkam, hielt er eine Flasche Wein in der Hand. Er sagte kein Wort. Niemand sagte etwas. Jemand von weit her oder von einem anderen Planeten hätte meinen können, es handle sich um eine religiöse Zeremonie. Dann hörte man das Ploppen, mit dem der Korken aus dem Flaschenhals rutschte, das Gluckern, mit dem der goldgelbe Wein in die Gläser floss.
Etwas eingeschüchtert ergriff Julien Sellier eines der Gläser, hielt es gegen das Licht und sagte schließlich:
»Zum Wohl.«
»Zum Wohl«, erwiderte Maigret. Woraufhin der Mann sich ins Dunkel des Zimmers zurückzog, während seine Frau an den Herd trat.
»Sag mal, Marcel«, begann der Kommissar und wandte sich wieder dem Jungen zu, der sich nicht gerührt hatte, »ich nehme an, du hast noch nie gelogen, oder?«
Wenn da ein Zögern war, so war es nur kurz, von einem raschen Seitenblick zur Mutter begleitet.
»Doch, Monsieur.«
Er beeilte sich hinzuzufügen:
»Aber ich habe es immer gebeichtet.«
»Du willst sagen, du bist anschließend zur Beichte gegangen?«
»Ja, Monsieur.«
»Gleich anschließend?«
»So schnell wie möglich, weil ich nicht im Stand der Sünde sterben wollte.«
»So schlimm werden die Lügen wohl nicht gewesen sein.«
»Doch, schon …«
»Wäre es dir sehr unangenehm, mir ein Beispiel zu nennen?«
»Einmal, als ich mir beim Klettern die Hose zerrissen hatte, habe ich zu Hause behauptet, ich wäre an einem Nagel im Hof von Joseph hängengeblieben.«
»Bist du sofort beichten gegangen?«
»Nein, erst am nächsten Tag.«
»Und wann hast du deinen Eltern die Wahrheit gestanden?«
»Erst eine Woche später. Ein andermal bin ich beim Fröschefangen in den Teich gefallen. Meine Eltern haben mir nämlich verboten, am Teich zu spielen, weil ich mich so leicht erkälte. Als ich pitschnass nach Hause kam, habe ich behauptet, jemand hätte mich von der kleinen Brücke in den Bach geschubst.«
»Hast du wieder eine Woche gewartet, bevor du ihnen die Wahrheit gesagt hast?«
»Nur zwei Tage.«
»Verzapfst du öfter solche Lügen?«
»Nein, Monsieur.«
»Wie oft ungefähr?«
Er nahm sich Zeit zum Nachdenken, wie in einer mündlichen Prüfung.
»Höchstens einmal pro Monat.«
»Lügen deine Freunde öfter?«
»Nicht alle, aber einige.«
»Gehen sie dann auch beichten?«
»Ich weiß nicht. Höchstwahrscheinlich.«
»Bist du mit dem Lehrerssohn befreundet?«
»Nein, Monsieur.«
»Du spielst nicht mit ihm?«
»Er spielt mit niemandem.«
»Warum?«
»Vielleicht, weil er nicht gern spielt. Oder weil sein Vater der Lehrer ist. Ich habe versucht, sein Freund zu sein.«
»Magst du Monsieur Gastin nicht?«
»Er ist ungerecht.«
»Inwiefern ungerecht?«
»Er gibt mir immer die besten Noten, auch wenn sein Sohn eigentlich besser war. Ich möchte gern der Klassenerste sein, aber nur, wenn ich wirklich der Beste bin, sonst nicht.
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